Perspektivwechsel

Perspektivwechsel

Kürzlich war ich in der Ausstellung Michael Wolf – Life in Cities in den Hamburger Deichtorhallen. Eine der dort gezeigten Werkserien, The Transparent City, Chicago, 2006, zeigt Wolfs großformatige Fotos von Chicagoer Bürohochhäusern. Da die Fotos trotz ihrer Größe eine hohe Schärfe haben, erkennt man bei genauerer Betrachtung diverse Details der Büroräume und nicht zuletzt auch ihre Nutzer.

So wird man vom Betrachter der durch zahlreiche Glasselemente geprägten Architektur schnell zum Voyeur, auf der Suche nach menschlichen Spuren. Ähnlich muss es Michael Wolf ergangen sein. Er entdeckte, als er diese Fotos vergrößerte, dass auch Gesichter stark verpixelt erkennbar und in ihrem Ausdruck deutlich wurden. Einige dieser Gesichter der in den Büroetagen arbeitenden Menschen hat Wolf erneut vergrößert und den Fotos der Fassaden zur Seite gestellt.

Befragt man dieser Gesichter, sprechen Sie (Achtung: meine Interpretation!) von Müdigkeit, Ratlosigkeit und Resignation. Natürlich kann man diese Ausdrücke der 2006 nahenden globalen Finanzkrise zuschreiben.


Die Büroräume, meist Großraumbüros, wirken aus der Perspektive des heimlichen Beobachters seltsam leblos und fremd auf mich mit ihren Bergen von Akten. Wie eine fremde Welt. Eigentlich handelt es sich um ganz normale Büroräume, nichts Besonderes. Allein die distanzierte Form der Betrachtung enthüllt ihren (wahren?) Charakter.

Und als ich die Pixelportraits der büroarbeitenden Menschen betrachtete, hätte ich ihnen am liebsten zugerufen „Sprecht mit einander!“. Nicht im Meeting, nicht per Email, sondern am besten von Angesicht zu Angesicht. „Damit ihr euch nicht selbst fremd werdet. Und hört euch zu!“

In vielen Teamentwicklungen ist eine wesentliche Erkenntnis, dass man wieder mehr mit einander sprechen will. Irgendwann zuvor ist die Zeit für das Gespräch zwischendurch einmal verloren gegangen. Jetzt zeigt sich, dass es ohne den direkten Austausch (oder den über Skype & Co) nicht geht. Dass sonst wichtige Informationen verloren gehen. Und dass sich Menschen, die zusammen arbeiten sollen, nicht mehr vertrauen können. Wie auch, wenn man sich kaum kennt?
In diesem Sinn ist meine Botschaft: Nehmen Sie sich die Zeit, sich auszutauschen. In der Kaffeeküche (deren wichtige Funktion sich nicht erst seit den agilen Zeiten herumgesprochen hat), zwischen den Terminen, wo auch immer. Bitte nicht alleine beim monatlichen Team-Talk.

Und wenn Sie nun denken „Mit einander reden? Das ist wirklich nicht mein Problem“, dann machen Sie doch einmal folgendes Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Herr Wolf würde seine Kamera auf Sie und Ihre Mitarbeiter richten und die resultierenden Fotos einem unvoreingenommenen Publikum zeigen. Was würde diesen Betrachtern auffallen? An ihrem Arbeitsplatz, an den Gesichtern und ihrer Mimik?

Vielleicht schaut man sich in 15 Jahren die Chicagoer Fotos von Michael Wolf an und sagt sich „Da haben wir gerade noch’mal die Kurve gekriegt.“

Autorin: Corinna Lütsch

Corinna Lütsch ist geschäftsführende Gesellschafterin der mentalenz GbR sowie Lehrkraft für besondere Aufgaben an der FH Kiel. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Teamentwicklung, Business Coaching sowie Selbst- und Zeitmanagement.

www.mentalenz.de

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